Donnerstag, 13. September 2012

9. Posthum - Ein Nachruf auf meinen Bruder (Teil 1)

Er war mein Bruder, er ist mein Bruder

Viel zu früh bist Du gestorben,
Gutes war Dir nicht vergönnt.
Ohne Hoffnung war Dein Leben,
Nur ein Nachruf ist geblieben.

Vorwort 


Mein Bruder Peter starb im November 1992 im Alter von 42 Jahren in Bonn-Ippendorf. Er war ein ehemaliges Heimkind, beginnend mit seinem dritten Lebensjahr, bis hin zu seinem 21. Lebensjahr, mit kurzen Unterbrechungen. Durch Nachforschungen zu unserer Familie erfuhr ich Ende letzten Jahres durch das Standesamt Gladbeck, seinem Geburtsort, dass er nicht mehr lebt. Nunmehr hatte sich mein Verdacht, oder eher ein Ahnung bestätigt. Das letzte mal sah ich ihn Anfang der 80er Jahre, als er mich in Hamburg besuchte. Über seine Todesursache weiß ich nichts, schließe aber rein garnichts aus, und sein Lebensweg, soweit mir bekannt, läßt schlimmes befürchten. Dazu bedarf es noch weiterer Nachforschungen, die sicher nicht einfach werden, zumal mittlerweile zwanzig Jahre ins Land gegangen sind. 

Meine sieben Geschwister: Peter oben links, oben rechts Hildegard Luise, mitte rechts Rainer, Sylvia und Egon, und unten rechts Hubert und Michael (unten links ich)

Sicher läßt sich nicht alles durch Heimerziehung erklären, was einem Menschen im Leben widerfährt, oder wozu er fähig ist. Aber zweifellos war die damalige Heimerziehung nicht in der Lage, den Kindern und Jugendlichen das einzuräumen, wonach sie nach dem Gesetz verpflichtet war. Nicht umsonst kam es zu einem Runden Tisch Heimerziehung und dem jetzigen Fonds Heimerziehung, ausgestattet mit 120 Millionen €, um das begangene Unrecht abzufedern, bzw. zu lindern, soweit es möglich ist.


(Auf Grund von Nachforschungen und Akteneinsicht ist es mir nun möglich, mir ein relativ  genaues Bild über den Lebensweg meines Bruders bis zu seiner Volljährigkeit (21 Jahre) zu machen. Soweit es mir die Zeit und meine Verfassung erlaubt, werde ich mein Wissen in diesem Posting niederschreiben.) M. Zielke


Die Zeit in der Gotteshütte


Pfeife rauchende Männer sehe ich vor meinem geistigen Auge: Günther Grass, Herbert Wehner, Helmut Kohl und einige andere. Was haben die mit meiner Geschichte, meiner Erzählung zu tuen - eigentlich gar nichts.“

Die ersten Lebensjahre verbrachten mein jüngerer Bruder und ich in Gladbeck. Und dann kam das Schicksalsjahr 1953. Da änderte sich unser Leben von einem Tag auf den anderen und wir verbrachten fast fünf Jahre in einem Erziehungsheim mit dem Namen Gotteshütte,fern ab der Stadt Gladbeck und getrennt von den Eltern. Noch waren wir Geschwister vereint und miteinander verbunden, auch wenn wir nicht immer einander zugetan waren, aber spätestens ab dem Jahre 1958 sollte sich alles radikal ändern.

Danke für eure Reaktion(Gemeint sind die Forenteilnehmer des FI-EHK-Forums). In der Tat, die drei von mir erwähnten Persönlichkeiten haben wenig gemeinsam, sieht man mal von Sekundärtugenden, wie Pünktlichkeit, Fleiß und Disziplin ab. Da ist erstgenannt der Künstler und Schriftsteller  Günther Grass, dann der ehemalige Kommunist und spätere Sozialdemokrat Herbert Wehner, und letztlich der mit der späten Geburt begnadete Helmut Kohl, der wohl historisch gesehen nach Bismarck der größte Deutsche ist, weil er die Wiedervereinigung auf den Weg brachte, und diese auch umsetzte.
Warum also diese Personen an den Anfang einer Geschichte mit autobiographischem Wiedererkennungswert? Ist es ein legitimer Kunstgriff, um Interesse an der Erzählung zu wecken, hat der Autor (Ich) vielleicht ein Problem, weil er mehr oder weniger ohne Vater aufgewachsen ist, oder trifft beides zu? Wie geht es weiter mit dem begonnen Text und was steht am Ende? Vielleicht verliert sich alles wie ein Spur im Wüstensand.

Noch mal Dank an hermes, der mit seinen Beiträgen das Heimkinderforum bisher schon so manches mal um einiges bereichert hat, indem er den Focus auf die verschiedenen Bereiche des Lebens richtet.
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1953 war das Jahr, wo die Gotteshütte ihr hundert jähriges Bestehen feierte. Ob mein Bruder und ich an diesen Feierlichkeiten teilnahmen, ist mir nicht erinnerlich. Gleichzeitig gab es in dem Jahr einen Wechsel an der Spitze der Heimleitung. Schwester Mathilde, die 1933 (Hitlers Machtergreifung) die Leitung der Anstalt übernahm und einst vom Henriettenstift Hannover kam, ging nach 20 Jahren in den Ruhestand. An ihre Stelle Stelle trat Schwester Klara Stöcker, die ebenfalls in einer Diakonissenanstalt ihre Ausbildung absolviert hatte.

Bis 1955 war ich mit meinem Bruder zusammen in der Kleinkindergruppe für Jungen. Danach wurden wir gruppenmäßig getrennt, weil ich nun auf die Heimschule ging und sozusagen zu den großen Jungen wechselte. Das innige Verhältnis zu meinem Bruder, sollte es überhaupt bestanden haben, war nun nicht mehr aufrechtzuerhalten.

Die Gotteshütte war ein Selbstversorgerbetrieb mit integriertem Bauernhof. In erster Linie wurde Landwirtschsaft betrieben, aber es gab auch Pferde, Kühe, Schweine und manchesmal wurde hausgeschlachtet. Eigentlich ein gutes Umfeld für Kinder, wenn da nur nicht die Erziehungsvorstellungen gewesen wären, wie man den noch heute in Abschrift existierenden Strafbüchern entnehmen kann. Nur die Strafbücher von der Gotteshütte sind abschriftlich vollständig beim LWL erhalten, bei allen anderen Einrichtungen der Heimerziehung im Bereich LWL gibt es diese nur noch lückenhaft.

Am schlimmsten fand ich jedoch rückwirkend gesehen,die religiöse Unterdrückung, man kann auch von Zwangschristianisierung sprechen. Inwieweit dies auch auf meinen Bruder zu traf,  kann ich heute nicht mehr sagen. Eigentlich war es ein Leben wie in einem Kloster, bzw. wie in einem Internat. Es verging wohl kaum ein Tag, wo nicht fünf mal gebetet wurde. Morgens, Mittags, Abends zu den Mahlzeiten, beim Aufstehen, beim Schlafengehen, und natürlich bei den Bibelstunden, sowie beim sonntäglichen Kirchgang. Die Religion war ein gebräuchliches Erziehungsmittel und oft furcht einflößend, gerade was das Alte Testament betraf. Diese Erfahrungen haben mich lange verfolgt und noch bis heute erlebe ich manchmal in der Nacht Angstattacken, begleitet von Ohrensausen und wache schweißgebadet auf. 

Putzkräfte gab es nicht, wir die Kinder waren für die Reinlichkeit der Unterkünfte unter Anleitung selbst zuständig.
Mein Bruder war musikalisch begabt, konnte nach Gehör Blockflöte spielen. Ansonsten war er jedoch sehr rebellisch und unangepasst und wurde oft bestraft.

Im Frühjahr 1957 sollte es eine Überführung von meinem Bruder und mir nach Gladbeck in das Städtische Kinderheim geben, welches sich dann aber zerschlug - sehr zu meinem Bedauern, denn ich wollte einfach nur weg. Erst ein Jahr später war es dann so weit, und eine Fürsorgerin brachte uns mit dem Zug von Minden nach Gladbeck. Wir bekamen Butterbrote geschmiert und auch ein oder zwei gekochte Eier mit auf den Weg.
Für meinen Bruder und mich war es nach vielen Jahren, das erste mal, dass wir frei und ungezwungen und ohne Aufsicht essen konnten. Mir ist es als ein herzhafter Genuss in Erinnerung geblieben.

Ein unangenehmes Erlebnis im Zug sei noch erwähnt. Im Zuggang drehte sich plötzlich ein vor mir gehender Hund um, und sprang mir ins Gesicht an die Nasenwurzel, was zu einer kleinen Verletzung führte und mich sehr erschreckt hatte. Wohl um einiges später erzählte mir mein Bruder, dass er den Hund in den Hintern getreten hatte, und dann schnell hinter mich gesprungen sei - er war also ein richtiger Lausbub mit vielen Facetten.

Die Ankunft im Städtischen Kinderheim in Gladbeck ist mir nicht mehr genau erinnerlich, aber es gab für uns alle tiefgreifende Veränderungen, und besonders für meinen Bruder begann eine leidvolle Zeit.


Das Marthaheim in Gladbeck hat eine wechselvolle Geschichte hinter sich und darum soll es an dieser Stelle mal erwähnt werden, bevor ich mit meiner Geschichte mit Hinblick auf meinen Bruder fortfahre. Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts, als die Stadt Gladbeck zu Reichtum und Wohlstand kam, entschlossen sich reiche Bürger ein Armenhaus zu bauen. Wer sich dafür interessiert, kann dies, wenn auch eingeschränkt im Internet recherchieren. Auch gibt es einen Chronisten, der sich mit der Geschichte des Heimes auseinandergesetzt hat. Im Dritten Reich allerdings wurde das Heim von der NSV (Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt) geführt, und die braunen Schwestern trieben dort ihr Unwesen. Es gibt entsprechende Fotos, wo vor dem Eingangsportal des Marhaheims HJ-Pimpfe und BDM- Mädchen abgebildet sind. Diese Fotos konnte man in der Zeitung "Der Westen" sehen, allerdings sind sie jetzt im Internet nicht mehr verfügbar. Soviel als Hintergrundwissen zum Marthaheim.
Während ich mich dort in Gladbeck relativ gut einleben konnte, war dies meinem Bruder nicht vergönnt. Er war ein Rebell, und man wollte ihn los werden. Ich erinnere mich sehr gut an Einzelheiten, etwa wenn er das Erziehungspersonal zum Narren hielt, aber letztlich hat er den Kampf verloren, mit der Konsequenz, dass er wieder in der Gotteshütte untergebracht wurde.


Zu erwähnen sei noch, dass man uns in Gladbeck im Marthaheim darauf aufmerksam machte, dass mein Bruder und ich noch weitere drei Geschwister hatten, die dort bereits untergebracht waren, was wir nicht wußten. Allerdings waren durch die Grundlagen der Vergangenheit die Möglichkeiten zerstört worden, zu diesen Geschwistern eine emotionale Beziehung aufzubauen. Ähnlich erging es mir mit dem mir nahestehenden Bruder. Ich empfand nicht einmal Mitleid, als er wieder in die Gotteshütte verbracht wurde. Darüber mehr im nächsten Abschnitt.
Jetzt merke ich doch, dass ich mir sehr viel zumute, wenn ich über meinen Bruder schreibe, und Gefahr laufe, alte Wunden wieder aufzureißen. Auch wird alles viel länger, als ich mir eigentlich vorgenommen habe. Dennoch bin ich der Meinung, gerade in so einem Forum für Ehemalige sollte so eine Geschichte, die für viele stellvertretend ist, untergebracht werden. Die Bewertungen des Erziehungspersonals u.a. darf man durchaus in jedwede Richtung hinterfragen.
Nun authentische Berichte vom JugendamtGladbeck, und von der Gotteshütte, sowie einiges andere. Es ist teilweise ermüdend, dies alles zu lesen, und wer davor zurückschreckt, hat mein Verständnis. Die einzelnen Beiträge setze ich als Zitate.


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Im folgenden abschriftlich die Berichte aus dem Erziehungsbogen zu meinem Bruder Peter vom 18.08.53 bis zum sich anschließenden Jahresbericht vom 15.03.58.

18.08.53 Peter wurde heute zusammen mit seinem Bruder vom Städt. Jugendamt Gladbeck unserem Heim zugeführt und hier auf der Station der vorschulpflichtigen Jungen aufgenommen 
17.05.54 Jahresbericht: Körperlicher Zustand: Gut entwickelt, gesund. Ab und zu näßt er ein. Geistiger Zustand: Normal begabt.Peter ist ein unruhiges Kind, aber er beschäftigt sich ganz schön allein, ist auch verträglich mit den anderen. Für seine Nervosität ist bezeichnend, daß er im Schlaf dauernd mit dem Kopf schlägt.Soweit es die kurze Zeit seines Heimaufenthaltes zu beurteilen erlaubt, macht er gute Fortschritte. Es bedarf vorläufig weiterer Heimerziehung.
15.12.54 Gewicht 19 kg Peter ist ein stämmiger, rundlicher, kräftiger Junge. Gesundheitlich geht es ihm gut.Geistig ist Peter anscheinend normal begabt. Er kann recht dickköpfig sein, wenn ihm irgendetwas nicht paßt, möcht am liebsten immer mit dem Kopf durch die Wand. Peter ist ein derber, rauher, robuster Junge: Straßenjunge. Er ist viel zänkischer als sein Bruder Manfred. Er muß stets eine feste Hand fühlen, wenn man ihm die Zügel etwas locker läßt, fällt er sofort aus der Rolle. 
21.02.55 Gewicht 20 kgPeter ist sehr selbständig, versucht immer seinen Willen durchzusetzen. Wenn dies nicht gelingt, meutert er gerne hinter dem Rücken der Erzieherin. Er wurde schon häufig bei einer Unehrlichkeit ertappt. Peter braucht daher stets Aufsicht, sonst stellt er gleich etwas an. Geistig ist er anscheinend einigermaßen normal begabt, spricht aber noch undeutlich. Peter schläft unruhig und singt beim Einschlafen. Das Essen schmeckt ihm immer, er ist gesund und kräftig.
01.04.55 Jahresbericht Gewicht 20 kg. Körperlich Zustand; gesund, kräftig, stämmig. Geistiger Zustand: scheint normal begabt, spricht schlecht. Entwicklung bleibt abzuwarten.Peter ist ein derber, rauher, robuster Junge. Er ist recht selbständig und versucht sich stets durchzusetzen. Peter weiß genau, was er will und kann recht dickköpfig werden, wenn etwas nicht nach seinem Willen geht. Mit den Kameraden ist er zänkisch und robust. Er braucht straffe, zielbewußte Führung.P. ist weiter gekommen, braucht aber immer gute Aufsicht. Bedarf weiterer Heimerziehung. 
31.05.55 Gewicht: 21 kg.Peter ist ein schwieriges Kind. Er versucht überall etwas anzustellen, was verboten ist. Selten will er mal so, wie er soll. Er verleitet auch seine Kameraden zu bösen Streichen, und verpetzt sie dann. Er nimmt ihnen aber nicht mehr so oft etwas weg, lügt auch nicht mehr so sehr. I.g. Ist er beliebt unter den Kindern. Im Schlaf schreit er oft auf und schläft noch immer recht unruhig. Der Appetit ist gut.
30.09.55 Gewicht: 21 kg.I.g. Hat sich Peter wenig geändert. An sich sieht er oft recht schmierig aus. Man muß ihn ständig beaufsichtigen, weil er gerne verbotene Dinge nimmt und leicht seine Kameraden verletzt. Peter nascht gern, das Essen ist ihm sehr wichtig. Mit Beschäftigungsmaterial weiß er nicht viel anzufangen, singt aber gern. Begeistert hört er Märchen und andere Geschichten. Er schläft noch unruhig wackelt vor dem Einschlafen summend mit dem Kopf hin und her. Die Sprache ist noch undeutlich, setzt noch „d“ für „g“ und „t“ für „st“. Im August erkrankte er an Masern.
16.01.56 Gewicht: 22,5 kgPeter hat sich körperlich gut entwickelt, er ist ein kräftiger und stämmiger Bursche. Peter wird Ostern des Jahres eingeschult. Da er langsam auffaßt, wird ihm die Schule vermutlich einige Mühe machen.Peter kann sich schwer konzentrieren, ist sehr leicht abgelenkt. Es fällt ihm schwer, sich allein zu beschäftigen. Viel lieber tobt er draußen umher. Auf sein Äußeres und seine Kleidung legt er nicht den geringsten Wert, sieht immer ungepflegt aus. Sein Schlaf ist immer noch unruhig, oft schreit er nachts auf. Wegen Platzmangel wurder in die Gruppe der Schuljungen verlegt.
10.07.56 Jahresbericht: Gew. -23 kg- Körperlicher Zustand: Stramm, stabil, und gesund. - Geistig: Scheint normal, wurde zu Ostern eingeschult. Bis jetzt befriedigender Anfang. - Peter iest ein rechter Junge, einesteils zutraulich und anhänglich, dann aber auch wieder ungehorsam, grob im Umgang, manchmal ein richtiger Straßenjunge, der sich rauft, balgt, schreit, und viel zerreißt. P. Ist oft auch recht eingenwillig, an sich wenig sauber. In die Gruppe fügt er sich wohl ein, muß aber immer seine Kräfte erproben. - P. hat Fortschritte gemacht, er muß streng gehalten werden, doch besteht berechtigte Hoffnung, daß er sich günstig entwickelt. - Braucht noch Heimerziehung.
01.08.56 Gew.: 24,- kg[Peter ist Ostern eingeschult worden, seine Leistungen sind bislang recht mäßig. Der charakterlich schwierige Junges stört den Schulunterricht ebenso wie er in der Gruppe manche Not bereitet. Er kann schlecht gehorchen, gibt freche Widerworte, reagiert kaum auf Ermahnungen und Strafen und braucht eine ganz straffe, feste Führung. Er muß wissen, wen er vor sich hat, sonst nimmt er sich viel heraus. Am liebsten tobt er draußen im Freien umher, achtet nicht im geringsten auf seine Kleidung, sieht immer unsauber und ungepflegt aus, zerreißt enorm viel Zeug. Er hat keinerlei Empfinden für Sauberkeit, schon kurze Zeit nach dem Baden sieht er wieder schmutzig aus. In seinem Verhalten zu den Kameraden ist Peter recht derb und wüst, hat häufig Händel, schlägt unbeherrscht und brutal zu. Auch von seinem älteren Bruder läßt er sich nichts sagen, hat an ihn auch kaum Bindungen. Nachts schläft er sehr unruhig, schreit laut auf, wiegt mit dem Kopf hin und her oder steht im Halbschlaf auf und findet nicht wieder ins Bett zurück. - Peter scheint anlagemäßig doch erheblich belastet zu sein.]
01.11.56 Gewicht: 26 kgPeter ist gross und stämmig, ein guter Esser. In d. Schule ist er mäßig, wechselnd in Leistungen und Eifer. Am Körper ist Peter immer schmutzig, zerreißt auch viel Kleidung. Er ist impulsiv, denkt oft nicht nach und handelt nach Augenblickseinfällen. Er gesteht Unarten aber ein, trägt auch nicht nach. Er ist hilfsbereit und macht kleine Arbeiten wie Staubwischen und ähnliches gern und gründlich. (wird fortgesetzt 29.09.12)
01.02.57 Peter ist ein großer, stämmiger und außerordentlich robuster Junge, dem das Essen immer gut schmeckt und der gute Gewichtszunahme zu verzeichnen hat. An sich und in seiner Kleidung sieht er immer schmutzig und ungepflegt aus, hat gar kein Empfinden für Sauberkeit. Der derbe, vitale Junge tobt am liebsten im Freien umher und weiß vor Übermut oft nicht wohin mit seiner Kraft. Er zerreißt enorm viel Kleidung und ist in seinem Verhalten zu den Kameraden recht wüst und grob, hat häufig Streit mit ihnen und schlägt unüberlegt zu. Er braucht eine ganz straffe Erziehung, gute Aufsicht und muß lernen, sich zu zügeln. Seine Ungezogenheit gesteht er meist ein, hat im Moment auch gute Vorsätze, ist keineswegs nachtragend, das Temperament geht dann aber meist wieder ihm durch. Kleine Aufträge und Hilfeleistungen führt Peter gern und mit Eifer aus. In der Schule leistet er nur wenig, könnte bei größerer Anstrengungsbereitschaft bessere Leistungen erzielen. Im Unterricht stört er ständig, ist ungezügelt und ständig abgelenkt. Ebenso wie mit seiner Kleidung geht er auch wüst mit seinen Schulsachen um, hat ständig die Tafel entzwei, fliegende Blätter in den Heften. Peter kann Ostern nicht versetzt werden und muß das erste Schuljahr noch einmal durchmachen.
05.04.57 Jahresbericht: Gewicht 26 kg – (Altersgemäß entwickelt, kernig und robust. Hat immer guten Appetit und regelmäßige Gewichtszunahme. - Unterdurchschnittlich begabt, muß das erste Schuljahr noch einmal durchlaufen.Lesen fällt ihm schwer, unkonzentriert und fahrig.) - Peter ist ein wilder Junge, der meist ungepflegt und schmutzig aussieht. Er hat dafür kein Empfinden. Seine Schulsachen sehen genauso unordentlich aus. Er verbracht viel Kleidung. Peter ist am liebsten draußen, tobt und rauft mit den Kameraden, wobei er oft unbedacht um sich schlägt. Er weiß vor Übermut oft nicht wohin mit seiner Kraft. Er braucht eine straffe Erziehung und gute Aufsicht. Seine Ungezogenheit gesteht er aber durchweg ein, trägt auch nicht lange nach, wenn er zurecht gewiesen wird. Seine guten Vorsätze halten meist nicht lange an, das Temperament geht mit ihm durch. Zu kleinen Hilfeleistungen und Besorgungen ist Peter geschickt und willig. - Peters vitales, lebensprühendes Temperament läßt ihn häufig noch sich schwer einfügen und sich sich selbst zügeln, Er braucht straffe, bestimmte Führung. - Peter soll demnächst mit seinem älteren Bruder Manfred in ein städtisches Kinderheim in Gladbeck verlegt werden. 
09.05.57 Gewicht 26 kg – Peter ist ein kräftiger, gesunder Junge mit gutem Appetit. Im Halbschlaf wackelt er mit dem Kopf hin und her und singt dazu, stört dadurch oft im Schlafraum. Er springt auch öfter schreiend aus dem Bett, wird dabei aber nicht richtig wach. In der Schule gibt er sich nicht viel Mühe. Das er sitzen blieb, macht ihm nicht viele aus. Er ist ein Junge, der bei allen Dummheiten dabei ist, aber offen bleibt, auch nicht nachträgt. Wenn man ihn nach seinen Willen laufen ließe, hätte er jeden Tag etwas zerrissen. Oft sieht er recht unkenntlich aus. Die Knie sind selten heil. Peter kann sich schlecht zusammennehmen. 
01.08.57 Gewicht 28 kg – Peter ist groß und stämmig, ein guter Esser. In der Schule scheint Peter aufzuholen, seine Hausaufgaben erledigt er erstaunlich schnell und auch ordentlich. In der Kleidung und am Körper hält er sich nicht besonders sauber. Kleine Hausarbeiten macht Peter gern und führt sie auch gewissenhaft zu Ende. Peter ist oft sehr ungezogen, aber man kann mit ihm reden. Er zankt viel mit seinen Kameraden. An seinem Bruder Manfred hängt er sehr. 
01.11.57 Gewicht 28,5 kg – Peter hat sich nicht wesentlich geändert. Er sieht nach wie vor die meiste Zeit wie ein Dreckspatz aus, wühlt auch in jedem Schmutz und wäscht sich ungern – darin gleichen sich die Brüder recht. Erstaunlicherweise erledigt er seine Schularbeiten recht ordentlich und sauber, kann jetzt dem Unterricht folgen. Sein Appetit lässt nichts zu wünschen übrig. Er hält sich gerne zu den großen Jungen, ist für alle Dummheiten zu haben. Bei seinen gleichaltrigen Kameraden ist er weniger beliebt. Den Erzieherinnen kann er nicht gut gehorchen, lacht oft oft einfach, wenn ihm etwas gesagt wird. Den Hausmädchen gegenüber kann er dreist und frech werden. 
20.02.58 Gewicht 29,5 kg - Peter hat sich sehr zu seinem Nachteil entwickelt. Durch seine große Unruhe stört er die ganze Gruppe. Seine Hände sind ständig in Bewegung. Peter sieht zwar ein, wenn er etwas verkehrt gemacht und verspricht Besserung, seine guten Vorsätze sind aber nicht von Bestand. Zur Sauberkeit und Ordnung muß er immer wieder angehalten werden. Er ist jetzt soweit, dass er seine Hände von sich aus einmal wäscht. Unter den anderen Kindern ist er sehr unverträglich, zankt und schlägt sich mit jedem. Leider ist er auch nicht ehrlich, lügt und nimmt den anderen Kindern etwas weg. In der Schule verrichtet er seine Arbeiten flüchtig und ungenau. Im Rechnen ist er etwas weitergekommen, aber bei kleinen Nachschriften macht er viele Fehler. Mit seinen Mitschülern hat er oft Streit. Beim Turnen strengt er sich nicht gerne an, geht dahin, wo ihn keiner sieht. Seine schulischen Leistungen sind ausreichend, er wird Ostern ins zweiter Schuljahr versetzt.Peter ist körperlich ein kräftiger, stämmiger Junge, hat stets guten Appetit. 
15.03.58 Jahresbericht: Groß, stämmig, robust, guter Appetit, gesund. - Mäßig begabt, schwache ausreichende Schulleistungen, arbeitet flüchtig und ungenau, interesselos. Wird ins zweiter Schuljahr versetzt. Peter sieht immer schmutzig und ungepflegt aus, hat gar kein Empfinden für Sauberkeit. Nach ständigen Ermahnungen ist er jetzt endlich soweit, daß er sich von selbst einmal die Hände wäscht. Peter ist ständig in Bewegung, immer darauf aus, etwas Neues zu entdecken. Mit Vorliebe hält er sich zu den größeren Jungen, bei den gleichaltrigen ist er wegen seiner derben, oft rücksichtslosen Art weniger beliebt. Bei allen Streichen und Dummheiten ist er beteiligt, braucht stets ein Ventil für seine vitales, ungezügeltes Temperament. Im Umgang mit den anderen Kindern ist Peter sehr unverträglich, zankt und schlägt sich häufig. Mit der Wahrheit nimmt er es nicht genau, versucht sich durch Lügen herauszureden. - Für die Schule bringt er nur geringes Interesse auf, macht in schriftlichen Arbeiten noch viele Fehler. Bei gutem Willen kann er sauber und ordentlich schreiben. - Peter erfordert gute Aufsicht und eine feste Hand. Die oft gefaßten guten Vorsätze werden immer wieder schnell vergessen. - Peter muß vorerst weiter im Heim bleiben. 
19.03.58 Jugendamt Gladbeck an Gotteshütte Betrift: Geschw. Manfred u. P.Zielke Die drei Geschwister der Obengenannten befnden sich hier im evgl. Waisenhaus. Um die Geschwister gemeinsam zu erziehen, halte ich es für zweckmäßig, die bei ihnen untergebrachten Kinder Manfred und P. auch ins hiesige Waisenhaus zu übernehmen. Das Waisenhaus ist durch einen Umbau wesentlich vergrößert worden, so daß nun genügend Platz für die Aufnahme, der von mir außerhalb untergebrachten Kinder vorhanden ist. Ich beabsichtige, die Geschwister am 24. März 1958 in Gladbeck im Laufe des Tages durch ein Fürsorgerin abholen zu lassen. 
24.03.58 Peter soll heute mit seinem Bruder Manfred in das evangelische Waisenhaus in Gladbeck verlegt werden.  
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Rückverlegung in die Gotteshütte 

23.05.58 Gotteshütte P. wurde heute der Gotteshütte wieder zugeführt. Er hat während der kurzen Zeit seiner Unterbringung im Marthaheim in Gladbeck seine Geschwister sehr ungünstig beeinflußt. Besonders sein vierjähriger Bruder Rainer. hat sich eng an ihn angeschlossen und folgte seinem schlechten Beispiel. Es wurde daher vom Jugendamt Gladbeck für nötig gehalten, Peter wieder von den Geschwistern zu trennen.
01.08.58 Gotteshütte Gewicht 31,- kg
P. zeigte sich bei Rückführung in unser Heim zuerst renitent, versuchte sogar eine Entweichung, er scheute wohl das 1. Zusammentreffen mit den alten Kameraden, Dann hat er sich aber schnell wieder eingelebt, doch wurde ihm das Enordnen zunächst schwerer als früher. Da er in Gladbeck die öffentl. Schule besuchte, hatte er sich dort freier bewegen können und empfand den Aufenthalt hier eingeengter. P. läßt sich vom Augenblick her bestimmen und leiten, er überlegt wenig, ist schnell zu allen Dummheiten bereit. Wenn man ernst mit ihm spricht, zeigt er Einsicht, weint sogar und verspricht Besserung, die ihm sicher im Augenblick ernst ist, doch ist schnell alles wieder vergessen, und bei der nächsten Gelegenheit macht er die selben Fehler und Streiche. Er erfordert immer eine gute Beaufsichtigung. Von der Großmutter zuhause erzählt er noch viel. Ihre Schilderungen des künftigen Erbes haben ihn offenbar sehr imponiert. Schulisch ist  P. ein Durchschnittsschüler, kommt mit, hat auch wohl guten Willen zum Lernen aber wenig Ausdauer. Er singt recht gern. In seiner lebhaften Art träumt er auch temperamentvoll, schreit öfter nachts auf.
01.11.58 Gotteshütte Gwicht 32,- kg
Gesunder stämmiger Junge mit gr. Temprament, das oft mit ihm durchgeht. Er ist wild, ungezügelt, nicht bösartig, aber sene guten Vorsätze halten nicht lange an. Er hat aber Ehrgefühl, körzl. weinter er bitterlich, weil ihn niemand haben will. Er ist noch nervös-unruhig, auch im Schlaf. Seine Herbstzeugnis hatte meist befriedigende Noten, wor könnte wohl mehr leisten, ist im 2. Schuljahr ( im 1. 1x sitzengebl. ) schreicht sauber, praktisch geschickt und fix.
01.02.59 Gotteshütte Gewicht 32.5 kg
P. ist der kräftigste Junge in der Gruppe, er strotzt sozusagen vor überschüssiger Kraft, die noch wenig zu zügeln und zu steuern weiss. Er ist fröhlich singt gern und laut, ist auch Ermahnungen und Zuspruch zugänglich, vergisst aber alles schnell wieder, das Temprament geht oft mit ihm durch. Mit den Kameraden ist er entsprechend rauh, zankt auch gern einmal, trägt aber nie nach. Wenn man mit ihm spricht, kann er einsichtig sein, sogar weinen, ist aber schnell wieder ungehemmt, ungehorsam, gibt auch leicht Widerworte und leistet erst mal hartnäckigen Widerstand. in seiner Unruhe ist er oft schwer in der Gruppe zu ertragen, stört auch nachts die anderen, wenn er plötzlich laut aufschreit oder aus dem Bett springt. P. hat Gemüt, ist auch zu interessieren, hat aber bei keinem Tun Ausdauer und Gründklichkeit, zeigt sich ebenso in der Schule willensschwach. Seine Leistungen im zweiten Schuljahr sind nach dem Sitenbleiben nun durchschnittlich, arbeitet oberflächlich. P. macht sich sehr schmutzig, ist wirklich oft der "schwarze Peter", hat ständig den Zug zur Aschekuhle. Er braucht eine feste straffe Hand, vorläufig weitere Heimerziehung. Eventuell kann er später für die Inpflegegabe zu ernergischen, ruhig-sachlichen Pflegeeltern vorgesehen werden. - Wird ins 3. Schuljahr versetzt.
  
07.04.59 Gotteshütte P. wurde heute in Pflege gegeben zu Familie Landwirt Wilh. Spr. in Heßlingen, Kreis Grafschaft Schaumburg.

Es ist einfach traurig, wenn ich jetzt so lese, was mein Bruder alles hat mitmachen müssen. Das ist er gerade mal acht Jahre alt und steht kurz vor seinem neunten Geburtstag. Gewiss, unsere Eltern haben versagt, aber hatten wir das verdient, was uns das Jugendamt und das Heim angetan hat?

Kommentar zu meinem Text von hermes:

Ein armer Junge, dein Bruder, sehr ergreifend.
Anhand der Zitate, kann man sich schon ein Bild machen,
dein Bruder suchte Zuneigung und Geborgenheit.
Seine "nächtlichen Schreie und aus dem Bett springen",
dokumentieren seine psychischen Leiden, die als "Störungen
der anderen Kinder" klassiviziert wurden. Und ständig die
Umschreibungen nach einer harten Hand", bei Erziehungsmaßnahmen...
So wurden Kinder systematisch kaputtgemacht. Er hat gerne gesungen
und suchte Kontakt zu anderen Kindern... Er suchte ein bischen Liebe! -
so glaube ich. Wie so viele andere Heimkinder. Sehr lesenswert!

Meine Antwort auf den Kommentar:

Hallo hermes,

danke für Deine Anteilnahme und Aufmerksamkeit. Sicher dürfte Dir nicht entgangen sein, dass es hier nicht nur um ein ganz persönliches Schicksal geht, sondern es ist symptomatisch für die damalige Zeit und die Unfähigkeit der Verantwortlichen ist. Das ist mein Anliegen, welches ich hier darsstellen will.
Mein Dank an die Heimzeitforenbetreiber, dass sie mit ihrem Forum Raum für solche Erfahrung, die Heimerziehung betreffend, zur Verfügung stellen.


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Heiligabend 2011

Weite Welt und breites Leben,

Langer Jahre redlich Streben...
Ältestes bewahrt mit Treue,
Freundlich aufgefaßtes Neue,
Heitern Sinn und reine Zwecke:
Nun, man kommt wohl eine Strecke.
Goethe
Ein schönes Lebensziel, welches J. W. G. in seiner unnachahmlichen Art zum Ausdruck bringt, dennoch war es den meisten Heimkindern verwehrt, auch nur annähernd solche Gedanken zu haben, geschweige denn, ihnen zu folgen. Nicht viel anders erging es auch meinem Bruder. Wie ich vor zehn Tagen erfuhr, war sein Leben doch recht kurz. 1992 ist er verstorben - genaueres weiß ich bisher nicht. Eine dunkle Ahnung beschlich mich schon länger und nun habe ich Gewissheit. Würde ich mehr in Erfahrung bringen wollen, wäre es mit Kosten verbunden.
Nun war mein Bruder also in einer Pflegefamilie untergebracht worden. Dazu sei noch folgendes erwähnt. Die Gotteshütte hatte im Laufe der Jahre und Jahrzehnte einen Kontakt zu etwa 60 Pflegefamilien aufgebaut. Das betraf aber nicht nur Jungen, die zur damaligen Zeit nur bis zum zehnten Lebensjahr in der Gotteshütte bleiben konnten, sondern auch die heranwachsenden Mädchen, die etwa in Pflegestellen als Haushälterin arbeiteten oder auch eine Lehrstelle erhielten. So etwas war in der damaligen Zeit gang und gäbe, allerdings auch nicht ganz uneigennützig, denn über einen Pflege- und Erziehungsvertrag konnte man an eine billige Arbeitskraft herankommen. Natürlich bekamen die Pflegeeltern sämtliche Vergütungen, wie sie zuvor auch die Gotteshütte erhalten hatte. Als da wäre Kleidung, Beköstigung, evtl auch Unterbringungskosten, welches ich jedoch nicht genau weiß. Auf alle Fälle verblieb mein Bruder in der erwähnten Pflegestelle ca. vierzehn Monate bis man sich seiner wieder entledigte. Gesprochen haben wir darüber kaum, bzw. ist mir vieles nicht erinnerlich, und so beschränke ich mich zur Schilderung seiner Erlebnisse auf aufschlussreiche Aktennotizen, die glücklicherweise in meine Hände gelangt sind.


Schriftverkehr zur Aufnahme und Zurücknahme von Peter aus der Familie Sprick

04.03.1959 Gotteshütte an Familie Spr. in Hesslingen
Sehr geehrte Familie Sprick!
Wie wir von Frl. Ehlebracht, die z.Z. an einer Venenentzündung erkrankt ist und sich bei ihrer Schwester in Rinteln aufhält, wissen, wären Sie bereit, nach den Fortgang von Gerd B. einen anderen Schuljungen unseres Heims in Pflege zu nehmen. Wir haben hierbei an einen knapp 9 jährigen Jungen gedacht, der bereits seit fünf Jahren durch unser Heim betreut wird. Dieser Junge ist kein Schützling des Landesjugendamtes Münster - Wie Gerd B. oder Walter St. -, sondern durch das Stadtjugendamt Gadbeck i.W. bei uns untergebracht, das auch die Kosten für ihn trägt.
Körperlich ist der Junge altersgemäß entwickelt, kräftig und gesund, er strotzt sozusagen vor überschüssiger Kraft, ist dadurch erzieherisch. nicht ganz leicht zu leiten. In seiner ganzen Art ist er etwas derb, vital und von lebhaften Temperament, das oft mit ihm durchgeht. Andererseits hat er auch Gemüt, ist durch persönliche Zuwendung ansprechbar, für alles interessiert. Zur Ordnung und Sauberkeit an sich selbst und in seinen Sachen muß er noch sehr angehalten werden. In der Schule sind seine Leistungen im 2. Schuljahr - nachdem er das erste Schuljahr zweimal durchlaufen hat - durchweg ausreichend - befriedigend, er arbeitet fix, neigt aber zur Flüchtigkeit. Ostern wird er ins 3.Schuljahr versetzt. Bei bestimter konsequenter Führung ist der Junge zu leiten. Nach dem jahrelangen Heimaufenthalt möchten wir ihm gern die Möglichkeit geben, sich in einer Familie und im freien Leben zu bewähren. Wir meinen, daß die erforderlichen Voraussetzungen für eine Förderung des Jungen bei Ihnen gegeben sind. Es würde auch gut sein, wenn der enorme Betätigungsdrang des Jungen durch angemessene Beschäftigung und gelegentliche Hilfeleistungen in Haus und Landwirtschaft in die rechten Bahnen gelenkt würde. Außer gelegentlich mit der Großmutter hat der Junge zu eigenen Angehörigen keinerlei Verbindung.
Da wir die Inpflegenahme möglichst noch während der kommenden Osterferien vornehmen möchten, bitten wir um recht baldige Nachricht, ob Sie bereit sind, den geschilderten Jungen als Pflegekind aufzunehmen. Wir würden uns dann wegen der nötigen Formalitäten sofort mit dem Jugendamt der Stadt Gladbeck in Verbindung setzten. Gegebenenfalls haben wir als Termin für die Inpflegegabe Montag, den 06.04.59 vorgesehen, und würden Sie dann bitten, den Jungen am genannten Tage vormittags hier im Heim abzuholen. Zunächst erwarten wir Ihre Nachricht.
Mit freundlichen Grüßen
auch an G. und W. (Pflegekinder, ehemals Gotteshütte, eigene Anmerkung)
Von Seiten der Gotteshütte wurde verschwiegen, dass mein Bruder mit Albträumen zu tun hatte, nachts schreckhaft aus dem Bett sprang, und auch schlafwandelte.
09.03.59 Familie Spr. an Gotteshütte/Kleinenbremen
Betr.: Aufnahme des Plegekindes - 3540 - P. Zielke
Vielen Dank für Ihr Schreiben v. 04.03.59 In Beantwortung dessen möchte ich Ihnen mitteilen, daß wir bereit sind, den von Ihnen geschilderten Jungen zu dem vorgeschlagenen Termin in Pflege zu nehemen.
Den Zeitpunkt seines Lehrstellenantritts wird G. (Nochpflegekind) ja rechtzeitig erfahren. Er fragt schon des öfteren, wann und wie er nach Dortmund kommt.
Freundliche Grüße
Familie Spr.
11.03.59 Gotteshütte an Jugendamt Stadt Gladbeck
Betreff.: P. Zielke, geb. xx.xx.xxxx.
Der o.g. Minderjährige befindet sich seit dem 23.05.58 wieder im hiesigen Heim, nachdem es sich wegen seiner schwierigen Veranlagung im dortigen Marthaheim als nicht tragbar erwiesen, und insbesondere seine Geschwister ungünstig beeinflußt hatte. Auch hier bereitet P. durch sein lebhaftes, vitales Temperament und ungezügeltes Verhalten manche Erziehungsnöte, ist schnell zu allen Dummheiten bereit, kann sehr bockig und eigensinnig sein, ist andererseits aber auch nicht ohne Gemüt und bei bestimmter konsequener Führung zu leiten. Da er körperlich allen seinen Gruppenkameraden überlegen ist, bedeutet er in seiner überschäumenden Vitalität der in Gemeinschaft oft eine kaum tragbare Belastung, ist daher auf die Dauer in der Gruppe unserer jüngeren Schuljungen nicht mehr am rechten Platz. Bevor wir jedoch eine Heimverlegung von P. zu größeren Schuljungen vorschlagen, möchte wir ihm als langjähriges Heimkind doch die Möglichkeit zur Bewährung in einer Familienpflegestelle geben.
Eine uns seit langen bekannte Landwirtsfamilie, die Eheleute Wilhelm Spr. in Heßlingen, ist bereit, P. nach Ostern des Jahres in Pflege zu nehmen. Familie Spr. hat mehrere Jahre einen Fürsorgezögling unseres Heims in Pflege gehabt und viel Verständnis und pädag. Geschick in der Erziehung dieses Jungen gezeigt. Wir könnten uns denken, daß die Familie auch mit p. fertig wird, ihn versteht, ihn fördert, und den enormen Betätigungsdrang des Jungen durch angemessene Beschäftigung und gelegentliche Hilfeleistung in Haus und Landwirtschaft in die rechten Bahnen lenken wird. Wir haben der Familie Spr. offen die Schwierigkeiten mit P. geschildert; sie ist bereit, es mit ihm zu versuchen. Die Inpflegegabe soll gegen Ende der Osterferien erfolgen, als Termin ist 06.04.59 vorgesehen.
Wir bitten, dortseits der beabsichtigten Pflegestellenvermittlung zuzustimmen und den Pflegeeltern Spr. ein monatliches Pflegegeld von 51,- M - wie es auch für die übrigen von uns betreuten Schützlinge in Pflegefamilienstellen gezahlt wird - zu bewilligen. Ebenso bitten wir um Bewilligung eine Pflege-Erstausstattung für P. bis zur Höchstgrenze vn 130,- M zuzüglich 40,- M für einen Mantel. Die Ausstattung würde dann hier beschafft und dem dortigen Jugendamt in Rechnung gestellt.
Damit rechtzeitig die nötigen Vorbereitungen getroffen werden können, bitten wir um beschleunigte Nachricht.
Die Heimleitung:
17.03.59 Stadt Gladbeck an Gotteshütte/Kleinenbremen

Betreff.: P. Zielke geb. xx.xx.xxxx.

In Einvernehmen mit dem hies. Jugendamt bin ich mit der beabsichtigten Unterbringung des obengenannten Kindes in eine Famiienpflegestelle ab 06.04.59 einverstanden. Die Übernahme des mtl. Pflegegeldes von 51,- DM sowie die Kosten einer einmaligen Pflege-Erstausstattung bis zum Höchstbetrae vn 130,- DM zuzügl. 40,- DM für die Anschaffung eins Mantels werden hierdurch zugesichert.
I. A.Stadtamtmann.

06.04.59 Gotteshütte an Kreisjugendamt Rinteln/Weser

Betr.: Pflegevermittlung P. Zielke, geb. xx.xx.xxx aus Gladbeck i.W.
Im Einverständnis mit dem Stadtjugendamt Gladbeck als Inhaber des Aufenthaltsbestimmungsrechts wurde der o.g. Minderjährige heute zu der Familie Landwirt Wilh. Spr. in Heßlingen in Pflege gegeben. Die Familie Spr. ist seit längeren Jahren als besonders geeigneter Pflegestelle bekannt. Der bisherige Pflegesohn von Spr. Gerd B. - westf. Fürsorgezögling - ist nach seiner zu Ostern erfolgten Schulentlassung zum Antritt einer Schlosserlehre nach Dortmund übergesiedelt. Seit 01.01.59 beschäftigen Spr.'s unseren Schützling Walter Stein (Schützling der FEH des LJA. Münster) als landw. Gehilfen. Wir bitten, den Eheleuten Spr. auch für P. Zielke die formelle Pflegehalteerlaubnis zu erteilen. Die monatlichen Pflegekosten von 51,- M werden vom BFV Gladbeck getragen.
P. wird in seiner Pflegestelle durch unsere Heimfürsorgerin weiter betreut werden.
Die Heimleitung:

Im nächsten Posting werde ich über das Pflegeverhältnis berichten, welches vermutlich von Anfang an zum Scheitern verurteilt war.

Eigentlich hätte mein Bruder während seiner "Erziehungszeit" der besonderen Liebe, Zuneigung und Aufmerksamkeit der Erziehenden bedurft.Frühkindliche Traumatisierungen im Elternhaus, offensichtliches darüber Hinwegsehen, und die damaligen Erziehungsvorstellungen, waren einfach nicht in Einklang zu bringen.An dieser Stelle nur zwei weitere Berichte aus seiner Zeit in der Pflegestelle, obwohl ich durch aus über mehr Informationen verfüge. Am Ende dieses Geschehens wird er abermals in die Gotteshütte verbracht, die ihn allerdings auch nicht mehr behalten konnte oder wollte.


27.11.59 Bericht einer Fürsorgerin der Gotteshütte nach nicht ganz acht Monaten des Aufenthaltes von P.in der Pflegestelle.

P. machte beim Besuch einen frischen, gesunden Eindruck. Als seine Schulbücher überprüft wurden, stellte sich heraus, daß er mit Bleistift geschrieben hatte, weil er seinen Füllhalter verloren hatte. P. hatte darum ein schlechtes Gewissen. Mit der Pflegemutter wurde die Ersatzbeschaffung eines Füllers besprochen. Da P. in kurzer Zeit schon den 3.Füller verbummelt hat, soll er nun einen neuen von seinem Taschengeld kaufen. P. ist nach wie vor in der Erziehung schwierig und obwohl er gern in seiner Pflegestelle ist, recht ungehorsam und bockig. Schon vor einigen Wochen hatte der Pflegevater im Heim über P.s Trotz und Eigensinn geklagt. Da es auch in der Schule Schwierigkeiten gegeben hatte, wurde noch P.s Klassenlehrer Herr Lange aufgesucht und mit ihm gesprochen. In der Schule - er besucht die 3. Klasse - ist P. unterm Klassendurchschnitt. Trotzreaktionen hat es bei ihm auch schon in der Schule gegeben. Z. Zt. ist sein Betragen befriedigend.
Von einer Heimrücknahme des Jungen, die zunächst befürchtet wurde, weil die Pflegeeltern erhebliche Klagen geführt hatten, soll vorerst abgesehen werden.


Aktenvermerk zu - 3540 - P. Zielke

09.06.60 Gotteshütte zur Aufbewahrung in der Schützlingsakte
Betr.: P. Zielke, geb. xx.xx.xxxx, in Pflege bei Familie Wilh. Spr., Heßlingen
Am 08.06.60 sprach der Pflegevater, Herr Spr. sen., im Heim vor und berichtet, daß P. sich wieder einmal sehr trotzig und verbockt gezeigt habe. P. wollte am Morgen - nachdem er schon die Kühe und Pferde zur Weide gebracht hatte, was ihm immer bes. Spaß macht - sich wieder zu Bett legen, um in alten Büchern und Heften, die er im Keller aufgestöbert hatte, zu lesen. Das Spr.s alle ins Heu gehen wollten, Peter aber auch nicht allein im Hause bleiben konnte (man ist bei ihm nie sicher, welche Dummheiten er anstellt), wurde ihm bedeutet, daß er ebenfalls mitgehen müsse. Darüber war P. sofort wieder eingeschnappt und hatte schimpfend das Haus der Pflegeeltern verlassen. Bis zum Mittag war er nicht ins Haus zurückgekkehrt. Als Spr.s den Jungen im Dorf suchten, ergab sich, daß er sich eine zeitlang in der Familie eines Schulkameraden aufgehalten hatte, zum Mittagessen aber angeblich nach Hause geschickt worden war. Später war Peter wieder im Dorf, bzw. in den angrenzenden Feldern gesehen worden. Eine nochmalige Rückfrage bein den Angehörigen des Schulkameraden ergab, daß P. wieder dort gewesen, aber erneut nach Hause geschickt worden sei.
Als der Unterzeichnete (Verfasser dieses Berichtes) am 08.06.60 gegen 18.30 Uhr mit dem PKW bei Spr.s eintraf, um P. entsprechend der Vereinbarung des Heimleiters mit Herrn Spr. aus der Pflegestelle in Heim zurückzuholen, war P. immer noch nicht in die Pflegestelle zurückgekehrt. Die jungen Eheleute Spr. machten sich erneut auf die Suche nach P., mußten aber nach längerer Zeit unverichteter Dinge wieder zurückkehren. Sie hatten P. zwar am Dorfausgang gesehen und auch angerufen, doch hatte der Junge sofort wieder das Weite gesucht und war in die Felder und Wiesen fortgelaufen. Nach fernmündlicher Rücksprache mit dem Heimleiter fuhr ich - nachdem Herr Spr. jun. gegen 20.30 Uhr wieder vergeblich versucht hatte, P. ins Haus zu holen - ohne P. wieder ins Heim zurück.
Nach den Aussagen von Familie Spr. haben sich P.s Trotzreaktionen in letzter Zeit verstärkt. Wenn irgendetwas nicht nach seinem Willen ging, reagierte er sofort mit Trotz und Bockigkeit, schrie laut oder rannte fort. Er ließ sich dann durch nichts ansprechen. Diese Trotzanfälle haben sich in letzter Zeit gehäuft. Zuletzt war P. etwa Ende Mai fortgelaufen, weil er vom Pflegevater gerügt worden war. Er hatte wegen unvollständig gemachter Schulaufgaben in der Schule nachsitzen müssen, bestritt das aber Herrn Spr. gegenüber, als er mittags verspätet vom Schuluntericht nach Hause kam. Auch damals war er bis zum Abend von zu Hause abwesend gewesen und konnte nur im Zusammenwirken mit dem Lehrer durch eine List wieder zurückgeholt werden. Mit der Wahrheit nimmt P. es nicht genau, auf eine Lüge kommt es bei ihm nicht an. Auch in der Schule war wieder häufig als Störenfried aufgefallen; unter seinen Schulkameraden ist er wegen seiner wüsten, derben Art gefürchtet. Er soll für sein Alter über enorme Kräfte verfügen. Wie von der Mieterin von Spr.s, Frau Duckstein, berichtet wurde, hat P. sie im vergangenen Jahr derart heftig angesprungen, daß ihr Arm verletzt wurde und sie sich in ärztl. Behandlung geben mußte. Frau D. etonte, sie habe anfangs versucht, im Guten auf P. einzuwirken, nach ihrer Meinung sei der Junge aber geradezu heimtückisch und gewaltätig veranlagt.
Es wurde mit der Familie Spr. vereinbart, daß sie P., wenn er sich wieder beruhigt hat und in die Pflegestelle zurückgekehrt ist, dann in den nächsten Tagen mit ihrem Wagen ins Heim zurückbringt. (09.06.60, Hr. Nolte)

Mit Sicherheit gab es damals noch die Prügelstrafe. Allerdings sucht man danach in den sogenannten Erziehungsberichten vergeblich. Auch ist der obige Bericht so gehalten, dass es einzig und allein an dem Fürsorgezögling lag, warum er wieder der Heimerziehung zugeführt wurde.
10.06.60 Gotteshütte Erziehungsbogen über P., geb. xx.xx.xxxx.
P. wurde heute (10.06.) durch den Pflegevater ins Heim zurückgebracht. Er hat in letzter Zeit sowohl in der Familie als auch in der Schule in zunehmenden Maße durch seine heftigen Trotzreaktionen, - wiederholt lief er fort und trieb sich im Ort umher -, erhebliche Schwierigkeiten bereitet. Familie Spr. sah sich daher nicht mehr in der Lage, den Jungen zu behalten. Peters Verlegung in ein Heim für größere Schuljungen ist vorgesehen.

Mein Bruder und auch wir anderen Geschwister haben einfach nur Pech gehabt. Daran kann man deutlich die Schwäche des damaligen Erziehungssystems in der BRD erkennen. Ein Gedanke, der der weiteren Erläuterung bedarf.

Zwischenbericht


Zwischenzeitlich war mein Bruder P. zehn Jahre alt, Was hatte er nicht alles erleben müssen, bedenkt man, dass wir doch alle ohne Schuld auf die Welt kommen. Die ersten drei Jahre verbrachte er in einem völlig unzureichenden, verkorksten Elternhaus, wo aber auch gar nichts geregelt war. Dann wurde das Jugendamt Gladbeck auf unsere Familie aufmerksam und verbrachte ihn und mich 1953 in die Gotteshütte. Nach einem kurzen Aufenthalt in Gladbeck im Jahre 1958 wurde mein Bruder wieder in die Gotteshütte verbracht und im Jahre 1959 kam er in Pflege nach Heßlingen, was letztlich katastrophal endete. Es war klar dass er in der Gotteshütte nicht bleiben konnte, und so kam es zwischen dem verantwortlichen Jugendamt der Stadt Gladbeck und dem Erziehungsheim Gotteshütte zu einem Schriftverkehr, an dessen Ende man sich einig war, P. zunächst mal in die jugendpsychiatrische Klinik in Gütersloh zur Beobachtung einzuweisen. Vermerkt ist in dem Schreiben noch, dass die Geschwister Zielke ohnehin als erziehungsschwierig gelten. (Das Gutachten der Beobachtung als solches liegt mir nicht vor, dürfte auch wohl nicht von Belang sein für meine weiteren Ausführungen; es dürfte ohnehin vermutlich nicht mehr existieren, was ich aber nicht mit ausschließender Sicherheit behaupten kann. Aller Wahrscheinlichkeit ist der LVR im Besitzt einer Akte über P., die nach den Datenschutzgesetzten sechzig Jahre unter Verschluß bleiben muß, es sei denn die betreffende Person ist verstorben.)

Das Jahr 1960 war nicht nur für meinen Bruder, sondern auch für meine Eltern und uns weitere Geschwister ein Jahr mit erheblichen Veränderungen. Wieder gab es viele Umbrüche in den Lebensverhältnissen, die kaum zu bewältigen waren.

Dazu muß ich noch einmal in das Jahr 1953 zurückgehen. Damals kamen wir alle bis dahin geborenen Geschwister, zahlenmäßig fünf, ins Heim und 1955 wurden unsere Eltern geschieden. Die Hintergründe sind mir nicht bekannt, werden wohl auch nicht mehr im Detail in Erfahrung zu bringen sein, denn meine Eltern sind schon einige Jahrzehnte tot.
1956, die Eltern waren irgendwann in die DDR geflüchtet, haben sie dort wieder geheiratet, weitere drei Kinder gezeugt, und alle tauchten wohl vermutlich 1960, vielleicht auch etwas früher, wieder mit den Kindern im Westen auf. Nun hatten sie sich in Duisburg angemeldet, und so dürfte es zu einem regen Schriftverkehr zwischen dem Jugendamt der Stadt Gladbeck, sowie dem Jugendamt der Stadt Duisburg gekommen sein. Es ist nur verständlich, dass die Stadt Gladbeck als Kostenträger für uns Geschwister nicht mehr aufkommen wollte, für uns Kinder war allerdings der sich anschließend in Gang kommende Prozess verheerend.

Nun der letzte Erziehungsbericht in Sachen Gotteshütte und die Verlegung nach Gütersloh.

17.07.60 Erziehungsbericht Gotteshütte
Gew.: 35,5 kg
P. ist seit dem 10.06. wieder im Heim. Es ist schwer, in kurzen Zügen sein auffälliges Verhalten zu charakterisieren. in der Regel gibt sich der Junge vorlaut, großsprecherisch und ungezügelt aggressiv. "Er kann und versteht schlechthin alles, kennt sich in allem aus und ist auch in körperlicher Hinsicht nicht zu übertreffen!" Es besteht jedoch hinreichend Veranlassung dafür, hinter diesem Erscheinungsbild sein wirkliches, gänzlich anderes Wesen zu vermuten, das er gegenüber der Außenwelt verbirgt. Diese künstliche Fassade dient ihm als Schutz und zur Verschleierung seiner enormen Unsicherheit, seiner Anlehnungsbedürfnisse und nicht zuletzt seines Bedürfnisses, anerkannt und bestätigt zu werden. Er braucht einen festen, aber verständnisvollen Halt, der auf seine Probleme eingeht und sein Selbstbewusstsein stärkt, so daß er sich nicht mehr künstlich aufzublähen braucht. Diese hypothetischen Formulierungen erhalten ihren Wert durch die aus der Beobachtung gewonnenen Einsichten:
  1. P. reagiert auf freundliches Zureden normal-aufgeschlossen, handelt (wenigstens eine Zeitlang) entsprechend und bleibt ansprechbar.
  2. Scharfe Zurechtweisungen hört er zunächst gar nicht, kommt nur unwillig und unverkennbar furchtbar näher, reißt die Arme reflexartig vor das Gesicht und verharrt in dieser Stellung solange, bis er nicht mehr beachtet wird. Sodann lächelt er. Fürchtet er Schläge, wirft er sich zu Boden. - Peter ist hilfsbereit, aber wenig ausdauernd.
P. ist zweifellos musikalisch. Er spielt nach dem Gehör erstaunlich gut Blockflöte, behält Melodien rasch und singt gern. Körperlich ist P. längst nicht so kräftig, wie er sich den Anschein gibt und wie seine etwas untersetzte Figur vermuten läßt. Es mag jedoch sein, daß er sich den vollen Kräfteeinsatz einfach nicht "traut". (gez. Webski)

Die obengenannte Aussage zu P. dürfte wohl von einer Fachkraft gemacht worden sein. Die damaligen Erzieherinen hatten nach meiner Erinnerung nicht ein derartiges Einfühlungsvermögen.

19.08.60 Gotteshütte  P. wurde am 04.08.60 der Westf. Klinik für Jugendpsychiatrie in Gütersloh zugeführt.

27 Jahre sind eine lange Zeit


Es war im Jahr 1985, als ich nach langer Zeit endlich den Mut fand, das Heim mal wieder aufzusuchen, wo ich so sehr gelitten hatte. Damals war ich 36 Jahre und hatte es immerhin zu einer Arbeit als Angestellter bei der Stadt Hamburg gebracht.
Mein Kommen hatte ich zuvor dem Heim brieflich mitgeteilt. Für mich war es ergreifend den Ort und die Gebäude des Heimes wiederzusehen. Natürlich hatte sich viel verändert gegenüber dem Jahr 1958, aber widerum auch nicht soviel, als dass meine Erinnerung getrübt gewesen wäre. Die Leute von der Verwaltung waren freundlich und händigten mir meine Heimakte im Original aus. Als man mir zu verstehen gab, dass man auch im Besitz der Akte meines Bruders sei, zögerte ich nicht, sie in meinen Besitz zu nehmen, obwohl ich gar nicht wußte, wo er wohnte und wie er lebte, was ich aber gegenüber der Verwaltung verschwieg.
Heute bin ich froh, so um- und weitsichtig gehandelt zu haben, denn mein Bruder ist nun seit mehr als zwanzig Jahren tot, und das macht es mir auch leichter, seine Geschichte hier im Forum zu erzählen, Ansonsten hätte ich dies nicht machen können.
Ich schrieb ja zuvor, dass man ihn von der Gotteshütte aus, in die Psychatrie nach Gütersloh zur Beobachtung verbracht hatte. Darüber und über seinen weiteren Lebensweg mehr im nächsten Posting. Er hatte kein schönes Leben wie die meisten der EH, aber vor allem war sein Leben viel zu kurz

Der 04.08.60 war formal Peters letzter Tag in der Gotteshütte, weitere Informationen zu einem späteren Zeitpunkt. (Samstag 29. September 2012.

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Peter wurde in die jugendspychiatrische Klinik in Gütersloh zur Beobachtung verbracht.  Im Anschluss daran gab es im August 1960 ein Wiedersehen in Duisburg-Hamborn bei den Eltern. Gut zwei Jahre und einige Monate hatten wir uns nicht mehr gesehen. Zur Klinik und auch zu den dortigen Umständen gibt es einiges zu erzählen.

Peter, nunmehr zehnjährig, hatte wohl in seinem bisherigen kurzen Leben ein Gespür für weitreichende bevorstehende Veränderungen auf seine Lebenssituation entwickelt. So entbehrt auch seine Überführung nach Gütersloh nicht einer gewissen Dramaturgie, die ich nun anhand von Unterlagen nachvollziehbar mache.
09.06.60 Gotteshütte an Jugendamt Gladbeck Nach Mitteilungen der Pflegeeltern bereitet der obengenannte Junge (P.) in zunehmenden Maße derartige Erziehungsschwierigkeiten, daß sie sich nicht mehr in der Lage sehen, ihn weiter zu behalten und um baldmöglichste Heimrücknahme gebeten haben. […] Wir bitten unter den gegebenen Umständen um beschleunigte Mitteilung, welchem Heim für ältere Schuljungen Peter Zielke zugeführt werden kann. Eine Wiederaufnahme in unserem Heim kann nicht erfolgen; Peter ist seines Alters und seiner Veranlagung wegen für unsere Jugendgruppe nicht mehr geeignet.
Im Hinblick auf die in letzter Zeit sich steigernden heftigen Trotzreaktionen und fast abnormen Verhaltensweisen des Jungen empfehlen wir, Peter Zielke zur stationären Beobachtung in eine jugendpsychiatrischen Klinik einzuweisen.

Wegen der gebotenen Eile bitten wir nochmals um beschleunigte weitere Veranlassung. (Thümmel) Heimleiter
11.06.60 Gotteshütte an Jugendamt Gladbeck Im Nachgang zu unserem Schreiben vom 09.06.60 teilen wir mit, daß der der obengenannte Minderjährige (P.) am 10.06.60 von seinen Pflegeeltern ins Heim zurück gebracht und zunächst in der Jungengruppe wieder wieder aufgenommen wurde. […] Wie wir bereits in vorerwähnten Schreiben ausführten, kann Peter Zielke nicht in unserem Heim bleiben. Wir bitten, um eine baldige anderweitige Unterbringung des Jungen bemüht zu bleiben. […] (Thümmel) Heimleiter
20.06.60 Gesundheitsamt Gladbeck an Gotteshütte Das obengenannte Schreiben (09.06.60) ging mir vom Jugendamt Gladbeck zur weiteren Veranlassung zu. - Da ich das Kind nicht persönlich kenne, kann ich leider keine Stellungnahme dazu nehmen. Es sind mir wohl die Geschwister des Jungen, die noch in einem unserer städtischen Waisenhäuser sind, als erziehungsschwierig bekannt. - Ich habe sofort nach Gütersloh geschrieben und um Aufnahme des Jungen zur Beobachtung in die jugendpsychiatrische Klinik gebeten. Von dort aus muß der Bescheid abgewartet werden. Sie bekommen dann umgehend eine Nachricht. Dr. Kremer Kinderfachärztin

 21.07.60 Gütersloh an Gesundheitsamt Gladbeck Das Kind Peter Zielke […] kann am 01.08.60 bei uns aufgenommen werden.
Wir bitten den Termin einzuhalten oder rechtzeitig abzuschreiben. Bei Nichteinhaltung des Termins wird der Platz sofort anderweitig belegt, so daß ihrerseits eine erneute Rückfrage erforderlich ist. Es wird dann ein neuer Termin verabredet.

Wäsche und Kleidungsstücke müssen mit vollem Namen an sichtbarer Stelle gezeichnet werden (mit wäschebeständiger Tinte).

Eine Kostenübernahmeerklärung der Krankenkasse oder zuständigen Behörde muß bei der Aufnahme hier vorliegen oder mitgebracht werden; andernfalls sind wir gehalten, die Aufnahme zu verweigern. Dr. Hecker (Direktorin und Landesobermedizinalrätin)
28.07.60 Jugendamt Gladbeck an Gotteshütte – Eilt sehr! Unter dem 2 0.06.60 sind sie vom Gesundheitsamt verständigt worden, daß eine Beobachtung in die Jugendpsychiatrische Klinik in Gütersloh beantragt wurde.Diesem Antrag ist nun entsprochen worden. Ich erhielt heute die Mitteilung, daß Peter am 01.08.60 in die Klinik aufgenommen werden kann. Die Mitteilung ist in Abschrift beigefügt. Ich bitte Peter dort hinzubringen.Die Kostenübernahme ist beim Fürsorgeamt beantragt worden und wird der Westf. Klinik vom hiesigen Fürsorgeamt unmittelbar übersandt werden. Ich bitte, dieses be der Aufnahme des Kindes mitzuteilen. I. A. XXX
29.07.60 Gotteshütte an Jugendpsychiatrie Gütersloh Bezugnahme auf Schreiben vom 21.07.60. Vom Stadtjugendamt Gladbeck erhalten wir soeben die Mitteilung, daß der obengenannte Minderjährige (P.) zum 1. August ds. Js. (Montag) in die dort. Jugendpsychiatrische Klinik einberufen worden ist. Peter Zielke befindet sich zur Zeit mit einer Schuljungen-Gruppe im Ramen eines Ferienaustausches in dem Ref. Kinderheim im Gildehaus b. Bentheim. Wir haben die zuständige Gruppenerzieherin sofort telefonisch verständigt und sie gebeten, den Jungen termingerecht am 01.08. der dortigen Klinik von Gildehaus zuzuführen. Die hier befindlichen restlichen Bekleidungsstücke sowie die Aktenvorgänge über Peter Zielke reichen wir in Kürze nach. (Nolte) Verwaltungskraft
03.08.60 Gotteshütte an Jugendpsychiatrie Gütersloh Unser Schreiben vom 29.07.60 In der Anlage übergeben wir unsere Aktenvorgänge sowie den hier geführten Erziehungsbogen über den obengenannten Minderjährigen (P), der von seinem Ferienaufenthalt im Ref. Kinderheim Gildehaus b. Bentheim der dortigen Klinik zugeführt werden soll. Die restlichen Kleidungsstücke des Jungen werden wir nach Rückkehr der Jungengruppe aus Gildehaus im Laufe der kommenden Woche per Post nach dort übersenden. Mit freundlichem Gruß! (Thümmel) Heimleiter
08.08.60 Gotteshütte an Jugendamt Gladbeck Bezug Schreiben vom 28.07.60 Der oben genannte Minderjährige (P.) befand sich bei Eingang des dortigen Schreibens vom 28.07.60 über die Einberufung in die Jugendpsychiatrische Klinik Gütersloh zum 01.08.60 mit seiner Gruppe im Wege eines Ferienaustausches im Ref. Kinderheim Gildehaus b. Bentheim. Die von uns sofort verständigte Gruppenerzieherin setzte sich fernmündlich mit der Leitung der Westf. Klinik Gütersloh, Frau Dr. Hecker, in Verbindung und erreichte, daß Peter Zielke wegen einer für den 03.08. von Gildehaus aus geplanten Hollandfahrt erst am 04.08. nach Gütersloh überführt werden brauchte. Vereinbarungsgemäß wurde der Junge am 04.08.60 von Gildehaus aus der Klinik in Gütersloh zugeführt.
Wie die Klinik Gütersloh am Freitag, dem 05.08.60 telefonisch mitteilte, ist Peter am 05.08. dort entwichen. Die Klinik hat die zuständige Kriminalpolizei um Fahndung nach dem Jungen gebeten. Seither haben wir über den Aufenthalt des Minderjährigen nichts mehr erfahren. (Thümmel) Heimleiter
10.08.60 Gotteshütte an Jugendpsychiatrie Gütersloh Bezug: Fernmündliche Rücksprache am 05.08.60. Wir bitten um geflissentliche Mitteilung, ob der o.g. (P:) Minderjährige inzwischen der dortigen Klinik wieder zugeführt werden konnte. Gegebenenfalls möchten wir dann die restlichen Kleidungsstücke des Jungen nach dort absenden. Mit freundlichem Gruß! (Thümmel) Heimleiter
12.08.60 Jugendpsychiatrie Gütersloh an Gotteshütte Bezug: Dortige Karte vom 10.08.60. Der obengenannte Junge (P.) ist noch am gleichen Tage in Gütersloh aufgegriffen worden. Er wurde durch die Polizei sofort wieder unserer Klinik zugeführt. (Dr. Hecker) Direktorin und Landesobermedizinalrätin

17.08.60 Jugendpsychiatrie Gütersloh an Gotteshütte Betr.: Peter Zielke. Die uns freundlicherweise zur Einsichtnahme überlassene Heimakte über den obengenannten Jungen reichen wir als Anlage mit besten Dank zurück. (Dr. Hecker) Direktorin und Landesobermedizinalrätin

18.08.60 Jugendamt Gladbeck an Gotteshütte Betr.: Peter Zielke. Ich bitte um Mitteilung, ob über den Aufenthalt des Peter Zielke etwas bekannt geworden ist. Gegebenenfals. bitte ich um Nachricht, welche Schritte von hieraus noch unternommen werden können, um das Kind zu ermitteln. I.A. XXX

19.08.60 Gotteshütte an Jugendamt Gladbeck Bezug: Schreiben vom 18.08.60. Auf Anfrage teilte uns die Leitung der Westf. Klinik für Jugendpsychiatrie Gütersloh unter dem 12.08.60 mit, daß Peter Zielke noch am gleichen Tag (05.08.60) in Gütersloh aufgeriffen und der Klinik durch die Polizei zugeführt worden sei. Der Junge hat inzwischen selbst seine frühere Gruppenerzieherin hier in Heim ganz zufrieden geschrieben. 
Anmerkung von mir am 03,10.12. Das oben erwähnte Schreiben von meinem Bruder aus Gütersloh an die Gruppenerzieherin habe ich leider in der Akte nicht gefunden, wohl aber einen kleinen Brief an den Heimleiter mit Posteingangsstempel vom 21.08.60 in der Gotteshütte).
21.08.60 Peter aus Gütersloh an Hausvater Thümmel Gotteshütte Lieber Hausvater Thümmel. Wie geht es Dir. Mir geht es gut. Ich möchte mal fragen ob ich am 1. September wieder nach den großen Jungen kommen kann.Holst du mich bitte dann ab. Ich freuje mich dann. Wie geht es denn Tante Ehlebracht, ist sie noch gesund. Wie geht es Hansi und Josie. Hier ist grad schlechtes Wetter. Ich möchte auch gerne wieder in die Schule. Viele Grüße (sen) auch an Detlev und Udo auch alle Großen Jungen. Es grüßt euch Eurer Peter
Der nächste Brief von Peter wurde in Duisburg-Hamborn geschrieben und hat den Eingangsstempel der Gotteshütte mit Datum vom 28.09.60. Gut sechs bis acht Wochen dürfte er wohl in Gütersloh gewesen sein. Nicht daß es so lange gebraucht hätte ihn auf alles mögliche hin zu untersuchen, sondern man wußte einfach nicht wohin mit dem Jungen. In diesem Zeitraum dürfte wohl ein reger Schriftverkehr zwischen den Jugendämtern von Gladbeck und Duisburg-Hamborn stattgefunden haben, mit dem Ziel uns Kinder, also meine Geschwister und mich, wieder der häuslichen Gewalt auszusetzen, denn es war durch die vorausgegangenen Jahre aktenkundig, daß meine Eltern unfähig waren, Kindern ein wohlbehütetes Zuhause zu ermöglichen. Sie waren damals von Gladbeck aus in die DDR gegangen, hatten dort ein paar Jahre gelebt, weitere drei Kinder gezeugt, und sich danach in Duisburg-Hamborn niedergelassen. In der Folge wurden alle Kinder aus Gladbeck zu den Eltern gebracht, nur Peter fehlte noch und kam dann als letzter zurück zu den Eltern.
28.09.60 Peter aus Duisburg-Hamborn an Hausvater Thümmel Da ich wieder bei meinen Eltern bin, bitte ich Sie, mir meine restlichen Sachen zu schicken. Und zwar meine Sparbüchse, 1 Buch, 1 Baukasten, eine lange Hose, Hosenträger, und ein Hemd. Sollte ich sonst noch etwas dort haben, legen Sie es bitte bei. Viele Grüße an alle Schwestern. Viele Grüße an Tante Edna. Und an alle anderen Jungen, besonders an Udo. Er soll mal schreiben. Es grüßt Euch Peter Zielke
05.10.60 Gotteshütte an Familie Hubert Zielke in Duisburg-Hamborn Geehrte Familie Zielke! Ihr Sohn Peter teilt mit, daß er wieder bei Ihnen ist. Wir danken ihm für seinen Brief. In der Anlage senden wir Ihnen schon einmal die polizeiliche Abmeldebestätigung für Peter, damit Sie ihn dort anmelden können. Seine Sachen gehen in den nächsten Tagen ab. Mit freundlichen Grüßen, auch an Peter! Außerdem fügen wir ein Impfbescheinigung für Peter bei. (Thümmel) Heimleiter
Am 07.10.60 erhielt Peter aus Kleinenbremen Gotteshütte ein Paket mit folgendem Inhalt: 2 Jacken, 2 lange Hosen, eine kurze Hose, 4 Taghemden, 3 Schlüpfer, 2 Schlafanzüge, 3 Sporthemden, 6 Taschentücher 2 paar Strümpfe, eine Mütze, ein paar Turnschuhe, ein Buch, eine Baukasten, ein Spielmagazin, eine Sparbüchse, eine Blockflöte.

Bevor ich nun weiter über die sich anschließenden schlimmen Jahre im Elternhaus berichte, im besonderen mit Bezug zu Peter, möchte ich nicht die Gelegenheit auslassen, mich einmal etwas näher mit Frau Dr. Hecker, der damaligen Direktorin der Jugendpsychiatrie in Gütersloh zu beschäftigen. Mich hat es einfach interessiert, wer diese Frau ist, und wie ihr beruflicher Werdegang war. Das Internet war mir dabei bei sehr hilfreich.

"Der Todesengel Elisabeth Hecker"


Wer war diese Frau, die sich in den Dienst der Rassenideologie der Nazis stellte, und sich schuldig machte, sogenanntes menschenunwürdiges Leben zu vernichten? Diese Einstellung, wonach geistig oder sonst wie Behinderte kein menschenwürdiges Leben führen konnten, war keineswegs nur in Deutschland verbreitet, aber nirgendwo sonst auf der Welt wurden diese Ziele so erbarmungs- und gnadenlos umgesetzt. Es ist schon reichlich perfide und infam, Menschen und Kinder in ihrem eigenen Interesse der Euthanasie zuzuführen.

Bei meiner kurzen Schilderung über den Werdegang von Elisabeth Hecker berufe ich mich weitestgehend auf den Informationsdienst Wikipedia.

Elisabeth Hecker war eine deutsch Kinderärztin, als auch Kinder- und Jugendpsychiaterin, die im Rahmen der Kindereuthanasie an NS-Verbrechen beteiligt war. Geboren wurde sie am 25. Dezember 1895 in Bad Oeynhausen, gestorben ist sie am 11. Januar 1986 in Marktoberdorf.


Hecker beendete 1915 ihre Schullaufbahn in Duisburg mit der Ablegung des Abiturs. Anschließend begann sie ein Philosophiestudium, wechselte aber zum Fach Medizin. Nachdem sie das Medizinstudium an den Universitäten Marburg, Würzburg, Tübingen und Jena absolviert hatte, legte sie in Jena 1920 das erste Staatsexamen ab und promovierte dort 1921 zum Dr. med. Ihre Assistenzarztzeit verbrachte sie in Danzig und Rostock. Anschließend erhielt sie am Berliner Kinderkrankenhaus eine pädiatrische Facharztausbildung. Von 1923 bis 1925 war sie als Oberärztin an der städtischen Kinderklinik in Dortmund beschäftigt und führte danach eine Kinderarztpraxis in Castrop-Rauxel.

Im März 1929 trat sie in den niederschlesischen Provinzialdienst ein und war zunächst als Abteilungsärztin an der Provinzialheil- u. Pflegeanstalt Freiburg beschäftigt, wo sie eine psychiatrische und neurologische Facharztausbildung erhielt. Weitere Stationen waren das Gesundheitsdezernat des Provinzialverwaltungsdienstes und die Leitung des Kindergenesungswerkes Jannowitz. Hecker befürwortete nach der „Machtergreifung“ das durch die Nationalsozialisten zu Anfang Januar 1934 in Kraft getretene Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses.

Wenn auch heute die Gedankengänge der Rassenpflege verbreiteter sind, so bleibt sicher noch viel zu tun, um den Einzelnen, den eine Befragung betrifft, davon zu überzeugen, dass das Vorkommen von geistigen und körperlichen Minderwertigkeiten keine Schande ist, die man vertuscht, sondern ein Unglück, das man bekämpft. Die letzte Zeit hat rasche Fortschritte auf dem Gebiet der Vorbeugungsmaßnahmen zur Rassenpflege gebracht. Als 1929 das Material zu dieser Arbeit gesammelt wurde, da bedeutete es eine Utopie, an die Durchführung eines Sterilisierungsgesetzes in naher Zeit zu glauben.“
  • Elisabeth Hecker in ihrem Aufsatz „Genealogische Untersuchungen an Schwachsinnigen“, der 1934 in der Zeitschrift für die gesamte Neurologie und Psychiatrie erschien

Hecker baute 1941 die jugendpsychiatrische Landesklinik in Loben auf und leitete dort die Aufnahmestation. Dort selektierte sie die Kinder nach „sozialer Brauchbarkeit“: Entweder wurden die Kinder in Besserungsanstalten verlegt oder wenn der Befund auf „Schwachsinn“ oder Epilepsie lautete, auf der von Anstaltsdirektor Ernst Buchalik geleiteten Station mittels tödlich wirkender Luminalgaben ermordet. Wenigstens 221 Kinder starben in der Einrichtung auf diese Weise.

In der Endphase des Zweiten Weltkrieges setzte sie sich vor dem Einmarsch der Roten Armee Mitte Januar 1945 in Richtung Westen ab. Sie praktizierte in Bayern als Landärztin und ließ sich 1947 in Siegen als Nervenärztin nieder. Im November 1951 trat sie in den Dienst des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe ein und baute am St. Johannes Stift in Niedermarsberg eine neue Station auf. Ab April 1952 etablierte die Obermedizinalrätin an der Heil- und Krankenanstalt Gütersloh eine kinder- und jugendpsychiatrische Abteilung, die ab März 1953 als eigenständige Einrichtung fungierte und 1965 nach Hamm verlegt wurde. Am 9. Dezember 1960 trat Hecker als Landesmedizinalrätin in den Ruhestand.
Von 1965 bis 1974 wurde durch die Staatsanwaltschaft Dortmund gegen ehemalige Ärzte und Pfleger der Heil- u. Pflegeanstalt Lublinitz ein Ermittlungsverfahren eingeleitet. Die Ermittlungen gegen Hecker wurden 1974 eingestellt.Schockierend empfinde ich ganz persönlich, dass Frau Hecker das Bundesverdienstkreuz Erster Klasse erhielt. Wie ist denn so etwas möglich? Hat man denn nicht versucht ihr Lebenswerk eingehend zu untersuchen, oder hat man sich vielleicht darauf berufen, dass es lediglich um die Verdienste für die Bundesrepublik Deutschland ging? Es bleibt ein schaler Nachgeschmack.

Quelle: Wikipedia zu Elisabeth Hecker 
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An dieser Stelle möchte ich dieses Post beenden, aber es wird eine Fortsetzung (Teil 2) geben, die sich mit dem weiteren Lebensweg meines Bruders befasst. Sieben Jahre, von 1953 bis 1960, mit zeitweiligen Unterbrechungen, war Peter in der Gotteshütte gewesen. Gebracht hat es nichts, wie ich meine. Ich führe dies auf die unterschiedlichen Zielsetzungen der damaligen Erziehungsheime, der Jugendämter, der Kostenträger und auf die strukturellen Rahmenbedingungen zurück. Darunter mag sich ein jeder vorstellen was er will, entsprechend seinen Erfahrungen mit der damaligen Heimerziehung, oder mit seiner beruflichen Qualifikation zum selbigen Thema. Ein weiterer Aspekt sind, so wie in meiner Familie, die frühkindlichen Schädigungen durch das Elternhaus, die zumeist nicht mehr aufzufangen sind, und auf die ich in der noch zu erstellenden Fortsetzung zu sprechen kommen werde. 

Allen interessierten LeserInnen danke ich, dass sie  sich durch diesen Wust von Erziehungsvorstellungen und Beurteilungen, zumeist negativ geprägt,  soweit es  meinen Bruder betrifft, der sich damals in einem noch sehr kindlichen Alter befand, hindurch gelesen haben.
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Hamburg, den 18.12.2012 (M. Zielke)

1 Kommentar:

Berthild hat gesagt…

Tja, geht sehr tief unter die Haut und ich weiß, wie sehr so manches Kind in dieser Zeit gelitten hat. Viel Kraft noch und herzliche Grüße aus Berlin,
Berthild